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Niestetal will mit Daten heizen: So könnte es funktionieren

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Göttingen, Universität, GWDG-Rechenzentrum: Super schneller Rechner, Super-Computer „Emmy“ - er gehört zu den schnellsten Computer in Deutschland, ist der schnellste in Niedersachsen, weltweit rangiert das System auf Platz 47. Foto: Universität Göttingen/nh
Die Mikroprozessoren (CPU) in den Server-Schränken von Großrechenzentren produzieren viel Abwärme, die sogar für das Heizen von Wohnhäusern genutzt werden kann. Unser Symbolbild zeigt den Super-Computer „Emmy“ der Gesellschaft für wissenschaftliche Datenverarbeitung in Göttingen. © privat

Niestetal hat Großes vor: Im Gewerbegebiet Sandershäuser Berg könnte auf etwa 30 Hektar ein Hyperscale-Rechenzentrum entstehen.

Diese Anlage würde sehr viel Strom verbrauchen. Das Rechenzentrum würde aber auch so viel Abwärme produzieren, dass damit über ein Fernwärmenetz ganz Niestetal und darüber hinaus noch Stadtteile Kassels mit Wärme versorgt werden könnten.

Niestetals Bürgermeister Marcel Brückmann (SPD) hält viel von diesem Konzept. Immerhin wäre damit die komplette Wärmeplanung für die Gemeinde Niestetal mit einem Schlag erledigt. Doch was ist dran an dieser Technologie? Wie ausgereift und zuverlässig ist sie? Anna Marie Cadenbach, leitende Wissenschaftlerin für Thermische Energiesystemtechnik im Kasseler Fraunhofer-Institut hält diese Idee für „super-innovativ“, aber auch für sehr komplex in der Umsetzung. Hier einige Fragen und Antworten.

Zunächst einmal: Wie kann es sein, dass allein die Abwärme von Computern ausreicht, um eine ganze Gemeinde mit rund 11.500 Einwohnen mit Wärme zu versorgen?

Tatsächlich verbrauchen Groß-Rechenzentren sehr viel Strom. Ein Hyperscale-Rechencenter, so wie es am Sandershäuser Berg entstehen könnte, benötigt mehrere 100 Megawatt Strom. Zum Vergleich: Niestetal hat einen Wärmebedarf von etwa 60 Megawatt. Der Grund für den hohen Stromverbrauch liegt in zig Tausend Mikroprozessoren in den Server-Schränken, die fast 100 Prozent des Stroms, den sie zum Rechnen brauchen, in Wärme umwandeln. Ein Mikrochip, auch CPU genannt (Central Processing Unit), wird dabei 40 bis 65 Grad Celsius heiß, bei starker Belastung sogar kurzfristig bis zu 85 Grad Celsius.

Aber wie kriegt man diese Wärme aus den Server-Schränken heraus?

Dafür gibt es im Prinzip zwei Verfahren. „Die Luftkühlung und die Flüssigkeitskühlung“, sagt Anna Marie Cadenbach. Bei der Luftkühlung wird einfach Luft durch den Server-Schrank geblasen. Dort erwärmt sie sich und wird am anderen Ende wieder abgesaugt. „Effektiver ist aber die Flüssigkeitskühlung“, sagt Cadenbach. Hier werden die einzelnen CPU mit filigranen Wärmetauschern versehen und an einen geschlossenen Kühlkreislauf angeschlossen. „Die durchgeleitete Kühlflüssigkeit erwärmt sich dabei von 17 auf etwa 40 bis 60 Grad Celsius“, sagt Cadenbach. Bei einer Luftkühlung werde die Luft dagegen nur um etwa 10 bis 15 Grad Celsius wärmer.

Aber solche Temperaturen reichen doch nicht aus, um alle Häuser, in denen Menschen leben, mollig warm zu kriegen?

„Das ist richtig“, sagt Cadenbach. Deshalb muss das aufgeheizte Wasser oder die aufgewärmte Luft noch einmal durch eine große Wärmepumpe, um die darin enthaltene Energie dann auf ein höheres Niveau zu heben – zum Beispiel in der Heizperiode auf bis zu 120 Grad Celsius, was etwa der Vorlauftemperatur im Fernwärmenetz Kassels entspricht. „Erst solch heißes und unter Druck stehendes Wasser ist für ein Fernwärmenetz geeignet“, sagt Cadenbach. Der Strom für die Wärmepumpe könnte aus den PV-Anlagen der Städtischen Werke auf dem Sandershäuser Berg kommen.

Aber der Sandershäuser Berg ist von Heiligenrode und Sandershausen immerhin noch zwei bis drei Kilometer entfernt.

„Solche Distanzen sind für moderne Fernwärmenetze kein Problem mehr“, sagt Cadenbach. Die Dämmung der Rohrleitungen sei inzwischen so gut, dass auch größere Distanzen ohne großen Energieverlust überbrückt werden könnten. Viel interessanter sei dagegen die Frage, inwieweit sich ein Fernwärmeangebot vom Sandershäuser Berg mit dem der Städtischen Werke in Kassel verbinden ließe. „Da gibt es viele technische Dinge zu klären“, sagt Cadenbach. Unmöglich sei solch eine Ankopplung aber nicht. „Auf diese Weise könnten auch Kasseler Haushalte von der CPU-Wärme vom Sandershäuser Berg profitieren.“

Gibt es denn überhaupt schon Beispiele dieser Größenordnung, bei denen Abwärme aus einem Rechenzentrum für die Wärmeversorgung einer ganzen Gemeinde genutzt wird?

Nur bedingt und eher mit Leuchtturmcharakter. Ein Projekt dieser Größenordnung und in dieser Form ist sehr innovativ, einzigartig und hat es so bislang noch nicht gegeben. In Deutschland versorgen bislang kleinere Rechenzentren direkt benachbarte Büro- oder Universitätsgebäude mit Wärme (zum Beispiel der Campus Lichtwiese der TU Darmstadt). Ein größeres hessisches Projekt mit dem Namen Franky wird derzeit in Frankfurt umgesetzt. Dort versorgt ab Mitte 2025 ein Rechenzentrum zu 60 Prozent ein ganzes Neubau-Quartier mit 1.300 Wohnungen, drei Kindergärten und Gewerbeeinheiten mit Wärme. In Europa sticht Schweden hervor: Allein in Stockholm speisen 30 Rechenzentren ihre Abwärme ins kommunale Fernwärmenetz ein.

Aber was ist, wenn das Rechenzentrum einmal ausfällt oder plötzlich nicht mehr gebraucht und stillgelegt wird? Sitzen die Niestetaler dann im Kalten?

Tatsächlich muss mit einem solchen Szenario immer gerechnet werden. Ein Rechenzentrum wird gebaut, um der wachsenden Digitalisierung und der Nachfrage nach IT-Dienstleistungen gerecht zu werden. Das aber ist eine Marktentscheidung, und keine Entscheidung dafür, eine Kommune mit Wärme zu versorgen. Anders gesagt: Wenn es der Markt verlangt, kann solch ein Rechenzentrum ebenso schnell wieder verschwinden, wie es gekommen ist.

Was wäre dafür die Lösung?

„Es muss Ausweichmöglickeiten geben“, sagt Cadenbach. So sei es notwendig, weitere Wärmequellen gewissermaßen als Reserve an das Netz anzuschließen. Das könnte zum Beispiel eine Wärmegewinnung aus dem Flusswasser der Fulda sein. Oder eben eine Verbindung hin zum Fernwärmenetz in Kassel, das derzeit eine Anschlussleistung von 445 Megawatt aufbietet und von drei Anlagen gespeist wird (Müllheizkraftwerk Bettenhausen, Kraftwerk Dennhäuser Straße, Kombi-Heizkraftwerk). Cadenbach: „Was auch immer die Quellen sind: Sie sollten mögliche Versorgungseinbrüche in Niestetal immer kompensieren können.“

Gibt es sonst noch technische Hemmnisse?

„Ja“, sagt Cadenbach. Der Einbau von entsprechender Technik für die Abwärmenutzung aus Rechenzentren sei aufwändig und senke die Wirtschaftlichkeit der Anlage. Besonders komplex seien gerade die effektiven Wasserkühlsysteme. „Die sind auf dem Markt aber noch nicht etabliert. Hier muss noch viel geforscht und entwickelt werden.“ Was mit Blick auf Niestetal auch erforderlich wäre, wäre der Bau der schon erwähnten Wärmepumpe, die die Temperatur der Abwärme anhebt, um sie für das Wärmenetz nutzbar zu machen. Hier müsse wieder investiert und ein Betreiber gefunden werden.

Unter dem Strich: Ist solch ein riesiges Projekt für Niestetal tatsächlich realistisch?

Ja. Niestetal erfülle viele Grundvoraussetzungen, die die Realisierung eines solchen Projektes erleichtern, sagt Cadenbach. Zum einen wäre genug Strom und Platz für ein Rechenzentrum da. Einen Glasfaseranschluss gibt es am Sandershäuser Berg auch, ebenso ein Fernwärmenetz in Kassel, an das das neue Netz angeschlossen werden könnte. „Dennoch gibt es bei der Umsetzung solch eines Projektes unfassbar viel zu berücksichtigen, zu planen und abzuwägen“, sagt Cadenbach.

Was zum Beispiel?

Solch ein großes Vorhaben berührt viele Aspekte: So geht es auch um Arbeitsplätze, um wirtschaftliche Impulse und weitere Chancen für die Region, um Gewerbesteuereinnahmen und ob diese tatsächlich auch in Niestetal beziehungsweise bei den Zweckverbandskommunen ankommen. Da geht es um ökologische Bedenken und nicht zuletzt auch um politische Akzeptanz. Cadenbach hat dazu eine klare Haltung: „Das alles muss gründlich abgewogen und sämtliche Auswirkungen im Vorfeld geprüft werden. Das geht nur, wenn alle an einem Tisch sitzen. Aber dann stehen alle Zeichen für ein solch innovatives und für die Region wichtiges Projekt auf Grün“.

Abwärme muss genutzt werden

Die wachsende Digitalisierung erfordert den Bau von immer mehr Rechenzentren. Dementsprechend ist laut der Helmholtz-Klima-Initiative der Energiebedarf von Rechenzentren in Deutschland in den Jahren von 2010 bis 2022 um 70 Prozent gestiegen. Im Jahr 2022 wurden 18 Terawattstunden Strom in Rechenzentren verbraucht. Zum Vergleich: Der Jahresstromverbrauch Berlins 2022 betrug 12,5 Terawattstunden. Um dem hohen Energiebedarf etwas entgegenzusetzen, müssen Rechenzentren nun klimafreundlicher werden und ihre Abwärme verstärkt nutzen. Das schreibt das neue Energieeffizienzgesetz (EnEfG) vor, das seit November 2023 in Kraft ist. Demnach müssen neue Rechenzentren, die ab Juli 2026 in Betrieb gehen, nachweisen, dass sie 10 Prozent ihrer Abwärme weiter nutzen – zum Beispiel für ein Fernwärmenetz. Dieser Anteil soll kontinuierlich steigen (ab Juli 2027: 15 Prozent, ab Juli 2028: 20 Prozent).

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